1,5 Jahre seit der ADHS-Diagnose: Was hat sich verändert?

1,5 Jahre seit der ADHS-Diagnose: Was hat sich verändert?

Anderthalb Jahre sind seit meiner offiziellen Diagnose vergangen. Seit anderthalb Jahren weiß ich, dass ich weder faul noch undiszipliniert bin und mich auch nicht „einfach mal zusammenreißen muss.“ Seit anderthalb Jahren ist klar: Ich habe ADHS. Doch hat die Diagnose etwas verändert? Darüber reden wir jetzt.

Ich bin nicht einmal mit einem halben Gedanken auf die Idee gekommen, dass ich ADHS haben könnte – bis zu diesem einen Abend im Oktober 2022, als ich ein Interview für den Podcast aufzeichnen wollte. Nichts Ungewöhnliches. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt schon etliche Experten im Zeitplanerin-Podcast begrüßt. Ich war gespannt auf dieses Interview, weil ich wissen wollte, ob mein Wissen auch jemandem helfen kann, der neurobiologisch anders verdrahtet ist. Deshalb hatte ich Gerrit eingeladen. Lehrer, Fotograf, Coach – mit einer langen Geschichte von Depression, die am Ende sogar dazu führte, dass er für eine lange Weile aus dem Schuldienst ausgeschieden ist. Bis er endlich seine Diagnose bekam: ADHS.

Gerrit hatte damals angefangen, über ADHS aufzuklären und über seine eigenen Schwierigkeiten mit Fokus, Prokrastination und Zeitblindheit berichtet. Wir begannen also das Interview und ich wollte wissen, wie sich ADHS bei ihm als Erwachsener zeigt. Und ab diesem Moment wurde das Interview zu einer „Das kenne ich auch!“-Folge.

ADHS-Diagnose und dann?

Anderthalb Jahre später, im Februar 2024, nach 6 Terminen, die sich über Monate zogen, hatte ich die offizielle Diagnose: Einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung, Mischtyp, leichte bis mittelschwere Ausprägung.

Und nun?

Die Empfehlung lautet: Kombitherapie aus Medikation und Psychotherapie. Ich empfand meinen Leidensdruck aber nicht groß genug, um noch mehr Medikamente zu nehmen (Morbus Crohn und chronische Migräne bringen schon genug Tabletten und Spritzen mit sich). Und eine Psychotherapie hätte ich zwar gern gemacht, aber Therapeuten mit Kassensitz zu finden, die sich mit ADHS bei Erwachsenen auskennen und nicht nur eine generische Verhaltenstherapie anbieten, ist zumindest hier bei uns einfach unmöglich.

Ich stehe also auch anderthalb Jahre nach der ADHS-Diagnose nach wie vor ohne medizinische oder therapeutische Hilfe da. War die aufwendige Diagnostik also umsonst? Nicht für mich.

Ich brauchte die professionelle Validierung. Ich hätte mich wie eine Hochstaplerin gefühlt, von meinen Symptomen als „fühlt sich nach ADHS an“ zu berichten, ohne eine offizielle (und möglichst gründliche) Diagnose zu haben. Und auch ohne Therapie hat sich in meinem Leben seitdem unglaublich viel verändert.

Reaktionen im Außen

Unmittelbar nach der Diagnose bin ich extrem offen damit umgegangen, hab jedem davon erzählt und – klassischer Hyperfokus – mehr über Symptome bei Erwachsenen geredet, als die meisten Menschen hören wollten. Inzwischen bin ich damit vorsichtiger, denn ich habe gemerkt, dass eine Diagnose – egal wie ausführlich und offiziell – nicht zwangsläufig die Skepsis vertreibt.

Viele Menschen, die mich schon lange kennen, zweifeln bis heute, ob die Diagnose so stimmt. Immerhin hätte ich doch ein Abitur mit einem Notendurchschnitt von 1,5. Und eine abgeschlossene Ausbildung. Und ein Studium. Wäre beruflich erfolgreich. Und könnte ja sogar so ein unbezahltes Projekt wie die Zeitplanerin über Jahre durchziehen. Auch dass ich stundenlang lesen kann, aber Bewegung eher als lästiges Übel empfinde, passt nicht ins Bild.

Copingmechanismen

Viele der Dinge, die mir Menschen als Beweis vorlegen, dass ich nicht wirklich ADHS haben könnte, sind dabei tatsächlich perfekte Beispiele für ADHS-Coping-Mechanismen:

  • Ja, ich habe ein 1er-Abi. Aber nur, weil ich als Leistungskurse Fächer gewählt habe, die ich inhaliert habe (Deutsch und Englisch). Das flog mir zu, da konnte ich permanent glänzen und zugleich musste ich nichts lernen. Ich konnte das einfach. Und Bio und Sozialkunde – die beiden anderen Prüfungsfächer? In Bio habe ich gar nicht erst versucht, Bereiche wie Genetik oder so zu lernen. Da ging es ums Verstehen. Das interessierte mich viel zu wenig, um so zu lernen, dass das hängengeblieben wäre. Also habe ich – 24 Stunden vor der schriftlichen Prüfung – meinen kompletten Ökologie-Ordner auswendig gelernt. Irgendwas mit gekippten Seen. Mehr wusste ich dazu schon einen Tag nach der Prüfung nicht mehr. Hat aber für eine 2 gereicht. Und Sozialkunde? Das war meine mündliche Prüfung und sie endete mit voller Punktzahl und der Empfehlung, Wissenschaftlerin oder Moderatorin zu werden. Ich hatte Glück, dass ich ein Thema bekam, das ich konnte. Aber vor allem habe ich alle drei Prüfer gnadenlos an die Wand gequatscht.
  • Ja, ich habe eine Ausbildung abgeschlossen, aber nur weil „man“ nun mal „Dinge zu Ende bringt, die man einmal anfängt.“ Es war hart und der Job so gar nicht meins. Und die Prüfung hätte ich beinahe versemmelt, weil ich nicht gesehen habe, dass das Aufgabenheft vorn und hinten Aufgaben enthält (in der Mitte war Papier eingeheftet, auf dem die Antworten notiert werden sollten).
  • Ja, ich habe ein Studium abgeschlossen. Aber auch hier: Ich habe Journalistik studiert!!!! Seit ich 14 bin, will ich Geschichten (und irgendwann ein Buch) schreiben. Hyperfokus, Leidenschaftsthema und zudem nichts, was ich „lernen“ muss. Schreiben ist ein Handwerk. Du musst einmal die Regeln lernen, aber dann musst du vor allem schreiben. Ich hatte mit 16 oder 17 eine kurze Phase, in der ich mit dem Gedanken liebäugelte, Chirurgin zu werden. Das wäre zwar auch aus anderen Gründen nie was geworden, aber ich habe den Gedanken damals gar nicht weiter verfolgt, weil ich mich nicht traute, etwas zu studieren, bei dem Menschenleben davon abhängen, ob ich mir das Gelernte langfristig merken und mich konzentrieren kann.
  • Ja, ich bin beruflich erfolgreich. Ich arbeite aber auch in der IT – viel ADHS-freundlicher geht es nicht mehr. Maximale Abwechslung. Hochdruckphasen. Schnelle Erfolgserlebnisse. Geistig anspruchsvolle Knobelei…
  • Ja, die Zeitplanerin geht bald ins 6. Jahr. Aber in den vergangenen 5 Jahren habe ich mehrfach den Fokus verändert, ständig neue Kanäle und Formate ausprobiert und am laufenden Band Workshops und Challenges erfunden und begleitet. Vor allem aber befriedigt es den kreativen Teil meines Gehirns und den, der helfen will. Also auch hier wieder: klassischer, wenn auch sehr lang anhaltender, Hyperfokus.
  • Ja, ich lese Stunden am Stück. Fast täglich. Aber mein Mann macht regelmäßig meine Bürotür zu, wenn ich im Sessel sitze und lese. Warum? Weil ich dabei oft eine Klapper-Schnecke (oder ist das eine Raupe?) in der Hand habe. Deren Klapperfrequenz finde ich beim Lesen super beruhigend, so dass ich mich konzentrieren kann. Für andere ist das aber vor allem super nervig.
  • Ja, ich mache nicht gern Sport. Das hat viele Gründe und ich versuche immer wieder, das zu ändern. Aber ich bin dennoch hyperaktiv: Meine Hände bewegen sich ständig, ich rede viel und schnell, ich kann keine 5 Minuten in derselben Position auf meinem Stuhl sitzen und ich wippe im Stehen ständig von einem Bein aufs andere. Hyperaktivität kann – gerade bei Erwachsenen, die gelernt haben, sich anzupassen – viele Gesichter haben.

Ich arbeite und plane anders seit der ADHS-Diagnose

All diese Anpassungen habe ich in meiner Kindheit, Jugend und bis zur Diagnose unbewusst vorgenommen. Oft war es Zufall, dass ich Dinge entdeckte, die für mich funktionierten. Und ebenso oft habe ich sie versteckt, weil sie zu kindisch waren oder sich anfühlten, als wäre ich nur zu faul, die Dinge „richtig“ zu machen. So wie alle anderen.

Mit der Diagnose konnte ich mir selbst die Erlaubnis geben, so kindisch zu sein, wie es sich richtig anfühlte. Fidget Toys? Ich habe heute eine ganze Schublade davon! Apps, die wie Tamagotchis funktionieren, um Gewohnheiten zu bilden und die Ernährung in den Griff zu bekommen? Her damit! Einen Wettbewerb aus dem Putzen machen, damit ich überhaupt mal putze? Ich bin dabei!

Keine Charakterschwäche, sondern Hirnchemie

Die Scham, dass ich „Erwachsenen“-Dinge nicht einfach so auf die Reihe bekomme, ist nicht weg. Aber sie lässt sich leichter tragen, seit ich weiß, dass der Grund dafür keine Charakterschwäche ist, sondern eine andere Hirnchemie.

Wo ich früher zufällig auf Hilfsmittel und funktionierende Strategien gestoßen bin, suche ich heute ganz bewusst danach. Die Diagnose war für mich vor allem auch eine gewaltige Abkürzung beim Googeln. Du glaubst nicht, wie unterschiedlich die Ergebnisse sind, je nachdem, ob du „Hilfe gegen Aufschieberei“ googelst oder „Hilfe zur Aufgabeninitiation bei ADHS.“

Die Sache war einfach: Mit dem Podcastinterview mit Gerrit begann bei mir die Suche nach mehr Informationen. Mit der Diagnostik wusste ich, welche meiner Probleme ADHS-Symptome sein könnten. Dann habe ich eine Liste gemacht und die gefiltert nach:

  • Symptomen, mit denen ich meinen Frieden schließen kann. Zum Beispiel meine Form der Hyperaktivität.
  • Symptomen, die mich stressen, aber zu dem Zeitpunkt keine gravierenden Auswirkungen haben/hatten. Zum Beispiel meine Impulsivität.
  • Symptomen, für die ich unbedingt eine Lösung finden muss, weil sie negative Auswirkungen auf meine Beziehungen, meine Arbeit und meine Gesundheit haben. Zum Beispiel Paralysen und Prokrastination, Zeitblindheit und emotionale Dysregulation.

Meine ADHS-Strategien

Die wichtigste Erkenntnis, als ich angefangen habe, mich genauer zu beobachten: Ich langweile mich wahnsinnig schnell. Und wenn ich mich langweile, ist es fast unmöglich, mich mit der langweiligen Sache weiter zu beschäftigen. Das galt auch für Planung und Selbstorganisation.

„Erwachsen und normal“ wäre es, dagegen anzugehen und mich zu zwingen, einer Methode, einem Werkzeug treu zu bleiben. Ich wusste aber, dass das nicht funktionieren und mich nur endlos stressen würde. Deshalb ist meine Strategie eine andere: Für jedes Problem habe ich immer mehr als eine mögliche Lösung im Werkzeugkoffer.

Ich habe Probleme, Prioritäten festzulegen? Prima, ich kenne mindestens 3 Methoden, Prio-Listen zu schreiben. Langweilt mich die eine, greife ich eben auf die andere zurück.

Mit dieser Strategie habe ich immer mindestens eine Lösung, die auch mein Hirn akzeptiert und rutsche nichts ins absolute Chaos ab, wenn ich das Interesse an bestimmten Planungsroutinen verliere.

Hilfsmittel und Strategien

Darüber hinaus nutze ich inzwischen folgende Hilfsmittel und Strategien ganz bewusst, um mit meinem ADHS-Hirn zu planen und zu arbeiten statt dagegen:

MethodenHilfsmittel
Fake-Deadlines für Termine (früher als die echten) und extrem frühe Fälligkeiten für AufgabenLoop Earplugs (unbezahlte Werbung) und ein Headset mit Noise Cancelling Funktion)
Arbeiten nur mit Musik oder Geräuschen auf den Ohren, dann ist der Kopf ruhigerFidget Toys in jeder Form und an jedem Ort
Ort oder Position wechseln (im Stehen arbeiten, im Gehen telefonieren, im Liegen an Meetings teilnehmen…) gegen ParalysenTimer – in jeder Form (als Ambience Video, mit farbiger Fläche, die die verbleibende Zeit anzeigt, als Sanduhr (nicht zu empfehlen!), als klassische Eieruhr, auf dem Handy, meiner Smartwatch und auf dem Rechner (Uhr auf Windows-Rechnern)…)
Body Doubling / Coworking für Fokus und gegen Prokrastination 
Verzicht auf Prioritäten (dafür so frühe Fälligkeiten, dass es egal ist, wenn ich 5x aufschiebe und das nie zur Prio mache) 
Viel mehr Puffer für alles, um die Zeitblindheit abzufangen 
Timeblocking und Timeboxing, um mich nicht zu verzetteln. 
Pomodoro-Technik, um Pausen einzuhalten 
Schreibtisch und Büro aufräumen gegen Überforderung und Paralysen 
Auf Schlaf, Bewegung, Ernährung und Frischluft achten gegen das Ausbrennen. 

Innere Bewertung

Die überraschendste Veränderung hat in den vergangenen anderthalb Jahren aber vermutlich in mir selbst stattgefunden. Ganz viele Dinge, für die ich mich früher verurteilt habe, sehe ich heute in einem anderen Licht. Deshalb kann ich sehr viel freundlicher und nachsichtiger mit mir selbst umgehen und das tut mir unheimlich gut.

Ich weiß zum Beispiel:

  • Ich bin nicht faul und undiszipliniert, sondern hänge in einer Paralyse fest.
  • Ich bin nicht kindisch, sondern weiß, dass mein Gehirn mit Wettbewerb, Neuheit und „Spielzeug“ besser fokussieren kann.

Ich fühle mich seit der Diagnose weniger ausgeliefert: Eine Charakterschwäche, ein Persönlichkeitsmerkmal kann man kaum ändern. Das fühlte sich wie ein Fluch an, über den ich keine Kontrolle hatte, der mir aber alles ruiniert hat. Eine Störung im Hirn? Damit kann ich arbeiten. Hier habe ich es selbst in der Hand, Wege zu finden, mit den Hindernissen umzugehen. Strategien und Werkzeuge zu entwickeln, die die Probleme mindestens minimieren, wenn nicht beseitigen. Weg von „So bin ich eben (falsch)“ hin zu „Mein Gehirn braucht einfach eine andere Arbeitsweise.“ Das war für mich die größte Befreiung.

Fazit: 1,5 Jahre nach der ADHS-Diagnose

Für mich hat sich mit der Diagnose einiges geändert – obwohl ich meine ADHS bisher nicht behandeln lasse. Ich arbeite anders. Ich plane und organisiere mich anders. Vor allem aber denke ich anders über mich und gehe anders mit mir selbst um.

Die ADHS-Diagnose ist für mich keine Ausrede, um zu verlangen, dass man meine Schwächen gefälligst hinnehmen soll (auch wenn ich ein bisschen mehr Verständnis toll fände). Sondern eher das Gegenteil: Sie war wie ein Schlüssel, der endlich die Tür aufgeschlossen hat, hinter der all die Schatztruhen mit den Lösungsideen stehen.

Und durch diese Schatztruhen wühle ich mich seit anderthalb Jahren. Ich experimentiere, teste, probiere aus, verwerfe, adaptiere und bastle aus 3 Edelsteinen und zwei Goldbändern meine eigene Krone statt darauf zu hoffen, dass irgendwo eine steht, die meinem Kopf passt.

Ich kann gezielt nach Lösungen suchen, weil ich meine Probleme endlich gezielt benennen kann. Für viele Dinge habe ich bereits gute Lösungen gefunden:

  • Meine Zeitblindheit
  • Meine Ablenkbarkeit
  • Meine Prokrastination
  • Meine Paralysen (Transitionen zwischen zwei Aufgaben sind aber immer noch die Pest)
  • Meine Hyperaktivität

Und für einige Dinge suche ich noch nach guten Lösungen:

  • Meine Impulsivität, die allmählich echt ins Geld geht
  • Meine große Angst vor Ablehnung, die mich immer noch zu einem People Pleaser macht
  • Meine schnelle Überforderung/Überwältigung (vor allem von mir selbst und den 3000 Gedanken, die schneller auftauchen, als ich sie aufschreiben kann)

Und wie ist das bei dir? Hast du auch eine offizielle ADHS-Diagnose? Und hat sie etwas in deinem Leben verändert? Wenn du magst, schau doch gern mal auf meinem Discord-Server vorbei. Dort findet nämlich auch ganz viel Austausch zu ADHS-Themen statt.