Zeitblindheit bei ADHS: Warum wir Zeit falsch einschätzen – und was wirklich hilft
Du willst „nur mal kurz“ eine E-Mail beantworten und plötzlich sind zwei Stunden vorbei. Oder du bist dir sicher, dass du für eine Aufgabe nur 10 Minuten brauchst und nach 3 Stunden bist du immer noch nicht fertig. Oder du kommst ständig zu spät, obwohl du wirklich versuchst, pünktlich zu sein. All das hat einen Namen: Zeitblindheit. Schauen wir uns an, was das ist – und was hilft.
Wenn dir jemand erzählt, dass er ab dem Mittagessen nur noch die Wand angestarrt hat, weil er um 15 Uhr einen wichtigen Termin hatte, klingt das nach einer witzigen Anekdote. Aber glaub mir: Das fühlt sich überhaupt nicht witzig an, wenn du der- oder diejenige bist, die an die Wand starrt. Entweder weil du so eine Panik hast, dass du dich im Hyperfokus verlierst und darüber den Termin verpasst. Oder weil du einfach nicht weißt, welche Aufgabe du in den zwei Stunden realistischerweise unterbringen kannst, ohne vor dem Termin total in Stress zu geraten.
Wenn das mal passiert, ist das eine Unannehmlichkeit. Aber mit ADHS ist das dein Alltag. Und jedes einzelne Mal fühlt sich wie ein Versagen an. Als hättest du dein Leben nicht im Griff. Und dann werde die Stimmen im Kopf wieder lauter, die schimpfen: „Werd doch endlich erwachsen!“ Dabei machst du nichts falsch (und schon gar nicht bist du falsch!).
Zeitgefühl mit ADHS
Menschen mit ADHS nehmen Zeit oft nicht linear wahr. Viele beschreiben ihre Zeitwahrnehmung so, dass es für sie entweder „jetzt“ oder „nicht jetzt“ gibt. Aber wie viel Zeit wirklich zwischen diesen beiden Zuständen liegt? 3 Minuten oder 3 Tage – fühlt sich alles irgendwie gleich an.
Ich kann mit dem „Jetzt vs. nicht-jetzt“-Konzept nicht so viel anfangen, denn ich finde, das macht es sich zu einfach. Wenn es nur diese beiden Zustände gäbe, würde es keinen Unterschied machen, ob etwas vergangen ist oder noch kommt – beides wäre einfach „nicht jetzt“.
Ganz so blind bin ich dann aber auf dem Zeitauge auch wieder nicht. Ich kämpfe vor allem mit Zeit in der Zukunft und zwar auf zwei Ebenen:
- Einschätzen, wann in der Zukunft ich mit etwas fertig sein werde.
- Was ich wirklich noch tun kann, bis zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Zukunft.
Warum Zeit für uns anders funktioniert
Zeitblindheit entsteht nicht aus Faulheit oder Desinteresse, sondern weil das ADHS-Gehirn Zeit anders verarbeitet. Während neurotypische Menschen oft eine Art „inneres Gefühl“ für die Zeit haben, fehlt uns dieser automatische Tracker. Wir merken erst, dass Zeit vergangen ist, wenn es schon zu spät ist.
Das führt zu zwei Hauptproblemen:
- Wir unterschätzen, wie lange Dinge dauern. Eine Aufgabe, für die wir 30 Minuten ansetzen, kann in Wahrheit zwei Stunden brauchen.
- Wir vergessen, dass Zeit vergeht. Wenn uns etwas fesselt (Hyperfokus) oder langweilt (Aufschieberitis), kann Zeit entweder rasen oder stillstehen.
Wie entsteht Zeitblindheit im Gehirn bei ADHS?
Bei Menschen mit ADHS ist das Gleichgewicht der Neurotransmitter, insbesondere Dopamin und Noradrenalin, gestört. Diese Botenstoffe sind entscheidend für die Informationsübertragung zwischen Nervenzellen und beeinflussen Funktionen wie Aufmerksamkeit, Motivation und Zeitwahrnehmung.
Gleichzeitig haben Studien haben gezeigt, dass bei ADHS-Betroffenen Veränderungen in bestimmten Hirnregionen vorliegen. Eine Untersuchung mittels MRT-Scans ergab, dass das Gesamtvolumen des Gehirns sowie das Volumen spezifischer Bereiche wie Nucleus caudatus, Putamen, Nucleus accumbens, Amygdala und Hippocampus bei ADHS-Patienten reduziert sind. Diese Regionen sind unter anderem für die Verarbeitung von Belohnungen, Emotionen und eben auch Zeitwahrnehmung zuständig.
Diese neurobiologischen Besonderheiten können dazu führen, dass Menschen mit ADHS Schwierigkeiten haben, die Zeit korrekt einzuschätzen und zu managen, was als Zeitblindheit bezeichnet wird.
Du kannst also nichts dafür, dass dich häufig verschätzt, wenn es darum geht, wie lange etwas dauert. Aber du kannst etwas dagegen tun.
Soforthilfe: Wenn du jetzt sofort was ändern willst
1. Nutze dein Gefühl für „Entfernungen“, nicht für Zeit
Statt dir zu sagen: „Ich brauche 10 Minuten zur Arbeit“, denke in greifbaren Aktionen:
- „Ich brauche so lange, wie zwei Songs im Radio“
- „Es dauert etwa ein Podcast-Intro“
- „Es sind drei Ampeln und eine Bushaltestelle“
Unser Gehirn kann sich Wegstrecken oft besser merken als Minuten und Stunden, weil sie konkret sind, während Zeit ein abstraktes Konstrukt ist.
2. Mach Termine visuell sichtbar
Statt nur eine Kalender-App zu haben, hilft es, Termine in die Realität zu ziehen:
- Post-its an der Tür: „Zahnarzt – 15:30 Uhr!“
- Handrücken-Notiz: Funktioniert, weil du sie immer siehst.
- Termin auf dem Spiegel oder Kühlschrank: Direkt nach dem Aufstehen.
Das hilft aber nur, um überhaupt an den Termin zu denken. Alarme sind dein bester Freund, wenn es darum geht, RECHTZEITIG wieder daran zu denken, wenn es soweit ist.
3. Rechne mit der „ADHS-Zeitsteuer“ aka Puffer
Erwachsene mit ADHS unterschätzen fast immer, wie lange etwas dauert. Lösung: Immer 50 % bis 100 % draufrechnen.
- Du denkst, du brauchst 30 Minuten zum Packen? Plane 45–60 ein.
- Eine Aufgabe scheint machbar in einer Stunde? Mach zwei draus.
- Setz dir Fake-Deadlines eine bis zwei Wochen vor der echten Deadline. So gerätst du nicht gleich in Stress, wenn du die erste Deadline nicht halten kannst, weil du dich im Aufwand verschätzt hast.
Klingt übertrieben? Teste es mal eine Woche lang – du wirst erstaunt sein, wie realistisch die neuen Schätzungen sind.
Langfristige Strategien gegen Zeitblindheit
1. Lerne, wie lange du für Aufgaben wirklich brauchst
Mach ein Experiment: Tracke eine Woche lang, wie lange bestimmte Dinge dauern. Nicht um dich zu stressen, sondern um ein ehrlicheres Gefühl für Zeit zu bekommen.
Nimm dazu:
- Stoppuhr oder Timer auf dem Handy
- Ein kleines Notizbuch oder eine App
- Die Stoppuhr in TickTick (verknüpft den Aufwand direkt mit der Aufgabe)
- Ein visueller Timer (Eieruhr)
- Ein Pomodoro-Timer (z.B. als Video auf Youtube)
Beobachte, ob deine Einschätzung mit der Realität übereinstimmt – und notier dir pro Aufgabe den realen Aufwand. Damit kannst du zukünftige Zeitpläne realistischer gestalten.
2. Arbeite mit „sichtbarer Zeit“ statt abstrakter Zahlen
Zeitblindheit bedeutet oft, dass wir Zahlen wie „30 Minuten“ nicht wirklich fühlen. Deshalb hilft es, Zeit sichtbar zu machen:
- Sanduhren oder visuelle Timer, die langsam ablaufen.
- Lampen, die heller werden, wenn die Zeit fast um ist (Habe ich noch nicht getestet, finde ich aber eine grandiose Idee!).
3. Baue ein „externes Zeitgedächtnis“ auf
Verlasse dich nicht auf dein Gehirn – es ist nicht darauf ausgelegt, Zeit korrekt zu tracken. Stattdessen:
- Fixe Zeiten für Routinen („Nach dem Frühstück mache ich X“ statt „Um 9 Uhr mache ich X“).
- Erinnerungen, die dich unterbrechen (Wecker, Kalender-Pop-ups).
- Check-in-Punkte am Tag („Mittags schaue ich, was ich noch erledigen muss“).
4. Verwandle Zeitmanagement in ein Spiel
Langweilige Dinge motivieren uns nicht. Aber wenn du das Ganze als Challenge siehst, funktioniert es besser:
- Schätze, wie lange du brauchst – und versuch deine Schätzung zu unterbieten.
- Mache „Speed-Runden“: „Wie viel schaffe ich in 10 Minuten?“
- Nutze Belohnungen: Fertig mit einer Aufgabe? Erlaube dir fünf Minuten Lieblingsmusik oder eine Kaffeepause.
Zeitblindheit: Du bist nicht schuld – aber du kannst was ändern
Zeitblindheit ist ein reales Problem und keine Ausrede. Und mit einem ADHS-Gehirn wirst du nie ein „Gefühl“ für Zeit haben. Du musst jeden Tag ganz bewusst ausrechnen, wie viel du wann erledigen kannst. Das ist anstrengend und nervig – vor allem, weil du es nicht ändern kannst. Aber mit den oben genannten Strategien kannst du zumindest die Folgen für deinen eigenen Alltag etwas abmildern.
Das Wichtigste: Finde Wege, die für dich funktionieren. Dein Gehirn ist nicht kaputt – es braucht nur andere Methoden als das neurotypische Zeitmanagement. Und das ist vollkommen okay.