ADHS oder einfach nur chaotisch?

ADHS oder einfach nur chaotisch?

Mein Selbstmanagement hat im letzten Jahr eine ganz schöne Wandlung durchgemacht. Ich hab neue Methoden hinzugenommen, meine Routine einmal auf den Kopf gestellt. Aber die heftigste Erschütterung fand eigentlich nur in meinem Kopf statt – als mir klar wurde, dass ich all mein Chaos vielleicht einen Grund hat: ADHS.

Im Oktober 2022 habe ich ein Podcast-Interview geführt, in dem es um Zeitmanagement mit ADHS ging. Gerrit hat darin davon erzählt, wie sich das anfühlt, wenn man als Erwachsener mit ADHS diagnostiziert wird – nachdem man sein Leben lang der Chaot war. Dieses Podcast-Interview war für mich, als ob plötzlich um 100.000-Teile-Puzzle meines Lebens die 100, die noch fehlten, um das Bild zu erkennen, an ihren Platz fielen.

Ich hatte zu diesem Zeitpunkt drei Jahre lang ein Persönlichkeitsentwicklungsbuch und einen Psychologie-Ratgeber nach dem anderen gelesen, um endlich herauszufinden, warum ich:

  • einfach nicht anfangen kann. Egal womit.
  • mich so schlecht konzentrieren kann, dass ich Filmabende als Höchststrafe empfinde.
  • mich ständig selbst ablenke.
  • ständig alles vergesse, wenn ich es nicht rigoros sofort aufschreibe und mit Datumsangabe und Erinnerung einplane
  • nicht einfach eine Sache nach der anderen machen kann, sondern immer 5 gleichzeitig.
  • ständig so überfordert und erschöpft bin…

Bin ich chaotisch oder habe ich ADHS?

Nach der knappen Stunde Gespräch mit Gerrit, in der ich quasi ununterbrochen dachte (und sagte): „Das kenne ich auch!“ hatte ich plötzlich das Gefühl, dass es für all meine vermeintlichen Schwächen eine einzige Erklärung geben könnte.

Ich hab mich damals Hals über Kopf in die Recherche gestürzt und das letzte Jahr quasi ununterbrochen über ADHS im Erwachsenenalter gelesen, Podcasts gehört und gefühlt 30 Selbsttests gemacht. Und dann habe ich versucht, einen Termin bei einem Facharzt zu bekommen, der ADHS diagnostizieren kann. Das war ein herber Rückschlag. Denn die Stellen sind rar, die Wartelisten lang (oder die Preise in Privatpraxen hoch) und ich hab Monate gewartet, um überhaupt irgendwo auf die Warteliste zu kommen. Eine Diagnose habe ich immer noch nicht. Nicht mal einen Termin dafür.

Aber in mir drin bin ich sicher: Ich habe ADHS.

Und das hat in meinem Zeit- und Selbstmanagement, vor allem aber in meinem Selbstbild so viel verändert, dass ich das Gefühl habe, ich wäre ein neuer Mensch.

Erkenntnis: Ich bin nicht „zu“, sondern ADHS-anders

Mein Leben lang war ich immer irgendwie „zu“ – zu viel das, zu wenig jenes. Aber nie einfach richtig. Das hat mir schon als Kind zugesetzt, als Jugendliche hat es mich dann derartig verunsichert, dass ich einfach aufgehört habe, ich zu sein. Mein gesamtes Erwachsenenleben habe ich Masken getragen – immer die, von der ich dachte, sie würden meinem jeweiligen Gegenüber am besten gefallen.

Heute kann ich erkennen, dass viele meiner „zu“ schlicht ADHS-Symptome sind. Zu viel reden, zu viel Zeug verlegen oder verlieren, zu viel aufschieben, zu wenig Ordnung halten, zu viel Geld ausgeben, zu wenig Selbstdisziplin haben, zu viel zu träumen, … Und mit dieser Erkenntnis konnte ich Frieden mit mir und mit meiner Vergangenheit schließen. Ich bin nicht mehr sauer auf mein Umfeld, weil ich verstehen kann, dass diese „zu“ ganz schön anstrengend gewesen sein müssen. Aber ich bin auch nicht mehr verzweifelt auf der Suche nach einem anderen, weniger anstrengenden Ich. Stattdessen übe ich, zu erkennen, wenn ich „zu“ werde – und teste alles aus, was helfen kann, mich da selbst zu regulieren.

Mit dieser Erkenntnis und der Akzeptanz fühle ich mich so viel stärker, weil ich das Gefühl habe, Ich sein zu können und trotzdem die Kontrolle zu haben.

Erkenntnis: Meiden oder machen

Mit dem Bewusstsein dafür, was ADHS-Symptome sein können, kann ich mich auch viel besser selbst beobachten. Das habe ich im vergangenen Jahr sehr intensiv gemacht. Ich habe versucht, herauszufinden, welche Symptome mir wirklich Schwierigkeiten machen, welche nicht und welche für mich sogar richtig wertvoll sind.

Ich bin zum Beispiel – wenn ich mich mal zu einer Aufgabe aufgerafft habe – richtig schnell. Teilweise deutlich schneller in bestimmten Bereichen als andere. Das hat mich sehr entspannt, wenn ich mal wieder gemerkt habe, dass ich etwas aufschiebe. Ich hab mich dann nicht gezwungen, es JETZT zu machen, weil ich wusste: So lange ich halbwegs rechtzeitig beginne, werde ich locker fertig. Und als der Druck einmal raus war, fiel mir auch das Anfangen viel leichter. Es ist immer noch meine Nemesis. Und ich schaffe es immer noch nicht, sofort anzufangen, wenn ich mich an den Schreibtisch setze. Aber es ist längst nicht mehr so anstrengend und belastend wie früher.

Dafür versuche ich inzwischen rigoros, nicht mehr 5 Dinge gleichzeitig zu machen, weil ich festgestellt habe, dass ich dabei nicht nur (noch) mehr Flüchtigkeitsfehler mache, sondern es mich auch Unmengen an Energie kostet. Weil ich trotzdem mehr Stimulation brauche, benutze ich konsequent Musik oder Geräusche, um einen weiteren Sinn zu beschäftigen, während ich mich auf die eine Aufgabe konzentriere.

So gehe ich nach und nach alle Symptome durch, die mich und meine Arbeit beeinflussen – und versuche, Methoden zu finden, um die belastendsten zu mindern.

Erkenntnis: Ich bin nicht allein mit dem ADHS-Chaos

Seit ich mich damit beschäftige und das – zum Beispiel im Podcast und auf Instagram auch offen kommuniziere, lerne ich so viel großartige andere Menschen kennen, die (auch) ADHS haben. Und es fühlt sich fantastisch an, so schnell reden zu können, wie ich mag – und dabei so wild von einem Thema zum anderen zu springe, wie es für mich logisch ist – weil der andere dabei keine Probleme hat, mitzukommen.

In meinem Alltag reguliere ich das sehr stark – und bin trotzdem oft frustriert, weil es sich für mich so anfühlt, als wäre mein Umfeld so langsam. Dabei (seien wir ehrlich) bin ich einfach zu schnell bzw. lasse beim Reden die Hälfte der Assoziationsspünge weg, die in meinem Kopf ablaufen, und schon kann kein neurotypischer Mensch mehr mitkommen).

Erkenntnis: Organisiertes Chaos

Seit ich mir sicher bin, dass mein Gehirn anders funktioniert, nämlich ADHS-anders, gehe ich mein Zeit- und Selbstmanagement auch anders an. Ich versuche nicht mehr, zu machen, was „andere doch auch schaffen“, sondern baue alle meine Methoden um mein spezielles Gehirn und dessen Bedürfnisse herum.

Das bedeutet zum Beispiel, dass ich nicht mehr versuche, das perfekte Layout für mein Daily im Bullet Journal zu finden. Sondern stattdessen drei bis vier habe, die alle funktionieren. Wenn mir das eine langweilig wird (und das passiert, egal, wie perfekt es ist), dann kann ich einfach ein anderes nutzen. Genauso handhabe ich die Methode. Ich suche also nicht nach einer perfekten Methode, um meine To-Do-Liste zu priorisieren, sondern kenne meine Mindestanforderungen ganz genau (limitierte Aufgabenzahl, weil ich mich sonst verzettle, Platz für Lustaufgaben, weil ich mich sonst nicht aufraffen kann, keine komplexen und zugleich schwammigen Klassifizierungen wie in der Eisenhower-Matrix, weil ich die bei jedem Blick darauf anders interpretiere). Und ich habe mehrere Methoden in meine To-Do-App integriert, die alle diese Anforderungen erfüllen und aus denen ich dann einfach wählen kann.

Ich versuche also nicht mehr, mein Chaos in Ordnung zu verwandeln. Vielmehr ist mein Anspruch, mein Chaos zu organisieren, so dass ich es genießen kann (Ja, ich genieße Chaos – solange es mich nicht überfordert!).

Noch habe ich keine offizielle Diagnose, aber selbst wenn es nie wirklich bestätigt werden kann: Ich bin mir sicher, dass ich ein neurodivergentes Gehirn habe. Und diese Sicherheit hat zu kleinen Änderungen mit riesiger Wirkung in meinem Zeit- und Selbstmanagement geführt.